Sanfte Geburt

Der Begriff „Sanfte Geburt“ wurde im Laufe der 1980er-Jahre vom französischen Gynäkologen und Geburtshelfer Frédérick Leboyer (geboren 1918) geprägt – er gilt als Vater der sanften Geburtsmedizin. Er hat sich für einen Rückzug der Technik und des medizinischen Personals während der Geburt stark gemacht und Missstände in der Geburtshilfe zum damaligen Zeitpunkt aufgezeigt. Konsequent setzte er sich dafür ein, dass Frauen und Babys ihre Würde und ihre Privatsphäre im Kreißsaal wieder zurückbekommen.

Bewusstes Ankommen

Mit der modernen Medizin hat auch eine andere Form der Geburtshilfe im Kreißsaal Einzug gehalten. Schwangere und gebärende Frauen wurden zunehmend in einem medizinischen Kontext betrachtet. Gesundheitliche Risiken von Mutter und Kind wurden sorgfältiger kontrolliert, man spricht auch von einer Medikalisierung der Geburt. Leboyer setzte sich für ein vollkommen anderes, neues Verständnis von Geburt ein. Er wies darauf hin, dass Kinder sehr wohl fühlen, empfinden und auf einer bestimmten Ebene wahrnehmen, wie die Umstände ihrer Geburt sind. Den Körper der Mutter gewaltsam zu verlassen, ist für Kinder gewissermaßen ein Schock, den es zu überwinden gilt. Erst dann können sie in der für sie fremden Welt ankommen.

Zeit als wichtiger Faktor

Zentraler Punkt der sanften Geburt ist die Atmosphäre bei der Entbindung.  Kinder sollen in einer liebevollen Umgebung ohne unnötigen Stress und ohne unnötige medizinische Interventionen zur Welt gebracht werden. Der Übergang vom Mutterleib in die äußere Welt soll so sanft wie nur möglich gestaltet werden. Eine Rolle spielt dabei der Faktor Zeit: Je mehr Zeit die Mutter hat, um sich den Geburtswehen hinzugeben und ihr eigenes Tempo zu wählen, desto schonender ist es auch für das Baby. Zudem sollte der Mutter der größtmögliche Entspannungszustand ermöglicht werden. Bleibt sie angespannt, gestresst oder ängstlich, unterdrückt dies die Produktion jener Hormone, die für die Geburt unbedingt erforderlich sind (z. B. Oxytocin, Adrenalin, Endorphine).

Wir sprechen in diesem Zusammenhang von Selbstbestimmung bei der Geburt. Idealerweise hat die Gebärende Raum und Zeit, um ihren eigenen  Rhythmus und einen individuellen Umgang mit den Schmerzen zu finden. Wenn das Baby das Licht der Welt erblickt hat, soll es so rasch wie möglich für ein frühes Bonding zur Mutter oder einer anderen engen Bezugsperson. Das hilft ihm dabei, sich von der Geburt zu erholen und Geborgenheit nach dieser aufregenden Reise zu tanken.

Leboyer geht übrigens nicht davon aus, dass eine Geburt vollkommen sanft im Erleben wäre. Er vergleicht eine Geburt mit einem Sturm oder einem Orkan. Nirgendwo sonst werden ähnliche Kräfte (und Schmerzen) freigesetzt wie bei einer Geburt – jedoch plädiert Leboyer dafür, dass alle bei der Geburt beteiligten Personen ihr Bestes geben sollten, um Mutter und Neugeborenem eine Atmosphäre der Geborgenheit und des sicheren Ankommens zu schaffen.

Merkmale einer „Sanften Geburt“

  • Der Kreißsaal oder Entbindungszimmer sollten sich von herkömmlichen Krankenzimmern unterscheiden. Die Einrichtung sollte möglichst angenehm, gemütlich und einladend gestaltet werde. Medizinische Geräte oder Hilfsmittel dürfen gerne in den Hintergrund rücken. Idealerweise hat die Mutter auch genug Platz, um sich frei zu bewegen und jene Gebärpositionen einzunehmen, die sie sich intuitiv gerade wünscht.
  • Das Entbindungszimmer ist freundlich gestaltet, die werdende Mutter soll sich darin wohlfühlen können.
  • Medizinische Maßnahmen werden nur dann ergriffen, wenn sie notwendig sind. Im Optimalfall kann die Mutter das Kind ohne ärztliche Hilfe gebären. Ihr steht eine Hebamme zur Seite, ein Arzt/eine Ärztin soll nur gegen Ende der Geburt oder bei medizinischen Komplikationen hinzugezogen werden.
  • Der Partner oder auch eine andere, vertraute Person darf während der Geburt dabei sein und die werdende Mutter unterstützen.
  • Die Gebärende soll jenen Raum erhalten, den sie benötigt, um sich privat und sicher zu fühlen. Das bedeutet auch, dass möglichst wenige Interventionen gesetzt werden, es möglichst wenig Unterbrechungen und möglichst keine Wechsel der Bezugspersonen (Hebamme) geben sollte.
  • Nach der Geburt wird das Baby der Mutter auf den Bauch gelegt, die Nabelschnur darf – sofern die Geburt ohne Komplikationen verlief und das Kind wohlauf ist – langsam auspulsieren. Dies erleichtert dem Neugeborenen die Umstellung auf die selbstständige Atmung.
  • Mutter und Neugeborenes dürfen sich langsam kennenlernen, das Baby darf schon sehr bald das erste Mal an die Brust gelegt werden. Das erste Bonding wird gefördert. Gebadet, gemessen und gewogen wird später.
  • Sofern nach der Geburt keine besonderen medizinischen Maßnahmen notwendig sind, ist der Umgang mit dem Kind sanft und bewusst.

Entspannte Atmosphäre auf der Geburtenstation

Natürlich geht es auf der geburtshilflichen Station im Krankenhaus nicht immer so gemütlich zu, wie man es sich vielleicht wünschen würde. Bei vielen Geburten gleichzeitig herrscht reger Betrieb, gelegentlich gibt es einen Notfall und in regelmäßigen Abständen stehen Schichtwechsel an. Dennoch ist es Frédérick Leboyer und anderen Wegbereitern der natürlichen Geburt wie Michel Odent zu verdanken, dass Gebären immer mehr aus dem medizinischen Kontext gelöst wurde, wenngleich Vorsorge und Betreuung für Schwangere und Gebärende systematisch im Gesundheitssystem organisiert sind.

Die Geburt wurde über lange Zeit als etwas Unnatürliches betrachtet, das unter permanenter medizinischer Bewachung stattfinden sollte. Lange Zeit war es den Frauen nicht erlaubt, in einer anderen Stellung als im Liegen zu gebären. Die Neugeborenen wurden sofort abgenabelt, die Mutter durfte ihr Kind erst halten, nachdem es gewaschen, gewogen und gemessen wurde. Immer mehr Kliniken haben in den letzten Jahrzehnten ihre Geburtsabteilung umgestaltet – freundliche Farben und warmes Licht machen den Kreißsaal zu einem Ort, in dem sich sowohl die Gebärende als auch das Neugeborene wohlfühlen können. Die sanfte Geburt ist eng verbunden mit Respekt gegenüber Mutter und Kind, sie geht Hand in Hand mit einer großen Menschenliebe und Hoffnung.

Sanft gebären heißt, für einen großen Schmerz bereit zu sein, für den sinnvollsten Schmerz der Welt. Die Geburt selbst ist nicht sanft, sie ist ein gewaltiger Akt; sanft soll die Einstellung der Frau sein und sanft die Umgebung, in die das Kind hineingeboren wird.“ - Ilona Schwägerl, Hebamme

Wichtig: Dennoch ist der Einsatz von medizinischer Technik und medizinischem Know-how aus Sicht der „Sanften Geburt“ nicht grundsätzlich abzulehnen. In Risikosituationen, die das Wohl von Mutter oder Kind gefährden, sind gewisse Maßnahmen nicht nur indiziert, sondern auch notwendig. Die Sicherheit von Mutter und Kind sollten stets im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen und idealerweise ist es dann zumindest möglich, Teilaspekte einer komplizierten Geburt „sanft“ zu gestalten.

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